Trauma für die Medienlandschaft

Kleine Zeitung 7.8.2020 Christian Wehrschütz
Auf diesen Artikel in der Kleinen Zeitung vom 7. August beziehe ich mich.

Am 7. August 2020 hat Christian Wehrschütz, Balkan-Korrespondent ua. der Kleinen Zeitung, einen "Jubiläumsbeitrag" zum 25. Jahrestag der Operation "Sturm" in Kroatien geschrieben. Er hat mich aufgewühlt. Und mich schlussendlich dazu verleitet, einen emotionalen Kommentar auf meiner Facebook-Seite zu verfassen. Hier darf er auch nicht fehlen.

Ich bin nicht jemand, der sich öffentlich zu politischen Themen äußert. Insbesondere nicht zu den Themen, die den ehemaligen Jugoslawienkrieg betreffen, die Schuldfrage oder die wüsten, verzerrten und irreführenden Bilder, die beschrieben werden – egal, ob von Laien oder Berufsschreibern. Heute (mittlerweile gestern) hat mich ein Artikel in der Kleinen Zeitung, verfasst vom wiederholt nicht so neutral korrespondierenden Herrn Christian Wehrschütz, in einem solchen Maß emotional berührt, dass ich von mir selbst überrascht war.

„Triumph für die einen, Trauma für die anderen“ schreibt Herr Wehrschütz in seinem Artikel zum 25-jährigen „Jubiläum“ der Operation „Sturm“, die 200.000 Serben zwang, von einem Tag auf den anderen ihr Zuhause in der „Kninska Krajina“ – einer historisch von ethnischen Serben bewohnten Region im kroatischen West-Slawonien, zu verlassen. Herr Wehrschütz spricht in dem Artikel von einer „Rückeroberung der von Serben gehaltenen Gebiete“ als Anlass für diese Aktion, die der später vom Haager Tribunal freigesprochene General Ante Gotovina in die Wege geleitet hat. Er schreibt von einer „Basis für die Friedensschlüsse für beide Staaten“. Er schreibt, dass vor der „Rückeroberung“ 45.000 Bewohner das Gebiet besiedelt haben, 92 Prozent von ihnen Serben. Heute seien es 6.500, in der Stadt Knin 3.600.

Zur Zeit der Operation „Oluja“ war ich sechs Jahre alt. Ich fuhr mit meiner Tante, meiner Schwester und Kusinen zu einer rund 25 Kilometer entfernten Familienfeier. Für die Fahrt brauchten wir mehrere Stunden. Wir mussten uns an der Kolonne von Menschen vorbeischlängeln, die bereits 400 Kilometer weit von Knin unterwegs waren. Unter ihnen fanden sich Greise, Frauen, die ihre Kinder in den Armen trugen, Männer, die Traktoren mit Anhänger fuhren, Menschen, die ihr gesamtes Hab und Gut auf dem Rücken trugen oder in Schubkarren vor sich herfuhren. Alte wie Junge, Gesunde, wie Kranke. Alle mit einem Ausdruck unendlichen Leids, Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit im Gesicht. Es waren keine „Besetzer“, keine Soldaten, keine Generäle. Es waren Familien, die seit Generationen ihre Häuser und Dörfer bewohnt hatten. Familien, die nach vier Jahren grausamen Kriegs vor dem Nichts standen. Mit dem großen Ziel, Zuflucht im Heimatland Serbien zu finden, wo sie heute noch mit der Seitennotiz „izbjeglice“ (Flüchtlinge) versehen werden.

Viele von ihnen siedelten sich in der „Republika Srpska“ in Bosnien an. Sie hatten kein Geld, um sich in Wohnungen einzumieten oder Häuser zu kaufen. Die prekäre wirtschaftliche Lage des Landes bot keine Möglichkeit, sie zu unterstützen, ihnen Arbeitsplätze anzubieten. Die Menschen schafften es trotzdem. Sie errichteten Siedlungen aus Wildbauten unweit des kroatisch-bosnischen Grenzflusses „Sava“ (Save). Belangt wurden sie deshalb nicht. Die Gebiete taugten nicht für Städtebau, zu unsicher war das vom Flussufer aufgeweichte Bauland. 2015 überschwemmte ein Jahrhunderthochwasser das Land. Diese Familien, die sich nach 20 Jahren endlich wieder ein Leben aufgebaut hatten, verloren alles. Einmal mehr.

Im Artikel steht kein Wort davon. Von diesen Schicksalen, die sich an meinen unwissenden Kinderaugen vorbeigeschleppt haben. Mit einem vorwurfsvollen Beigeschmack berichtet Herr Wehrschütz: „Keine versöhnlichen Töne kamen gestern aus Serbien. Die Operation ‚Sturm‘ wurde als Kriegsverbrechen gewertet, die eigene Opferrolle betont, eine Einsicht in die enorme Verantwortung für den blutigen Zerfall Jugoslawiens fehlt weiterhin.“ Ausgerechnet diesen Abschlusssatz hat der Korrespondent gewählt, um 25 Jahre schwer erkämpfter Heilung zu beschreiben. Wie „blutig“ die Operation „Oluja“ ausgegangen ist, erwähnt er nicht. Ehrlich gesagt kenne auch ich nicht die Opferzahlen, das Ausmaß der „Kollateralschäden“.

Vor drei Jahren fuhr ich durch die Randgebiete der Kninska Krajina. Der Anblick bereitete mir Gänsehaut: Verfallene Gemäuer, verlassene Häuser, wucherndes Unkraut, zusammengefallene Dächer, abbröckelnder Mörtel, ausgetrocknete Bäche. Nur hier und da konnte man an vergilbten Plastik-Gartenstühlen betagte einsame Menschen mit ihren Kaffeehäferln sitzen sehen. Eine Geisterstadt.

Ich bin in ex-jugoslawischen, gesellschaftlichen Fragen immer auf Versöhnung, Aufarbeitung, Heilung bedacht. Ich antworte auf Vorwürfe nicht nach dem Schema „ja, aber ihr habt das und das gemacht.“ Für mich zählen nicht Generäle, die von ihrem Thron aus über das Leben Tausender Menschen bestimmen. Für mich zählen auch keine getürkten Geschichtsbücher, geschönten Zahlen, dramatisierten Darstellungen und politische Floskeln. Für mich zählt der Mensch. Dieser Artikel spuckt 200.000 Menschen – und vermutlich vielen mehr, die aus dieser Generation hervorgegangen sind – ins Gesicht, verhöhnt ihre Vergangenheit und setzt ihren Leidensweg in Kontext mit einer unterschwelligen Schuldfrage, die seit 1999 als unumstößlich gilt. Mir hat dieser Artikel Tränen der Wut in die Augen getrieben. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit. Schämen Sie sich, Herr Wehrschütz!